Schulmilchprogramm im Lobby-Sumpf
Report entlarvt jahrzehntelange Verflechtung zwischen Milchwirtschaft, Wissenschaftlern und Politik in NRW – foodwatch kritisiert Absatzförderung zu Lasten der Kindergesundheit
Foodwatch
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„Bei der Schulkakaoförderung geht es zu allerletzt um die Gesundheit der Kinder – es ist ein durch und durch lobbyverseuchtes Absatzförderungsprogramm für die Milchwirtschaft. Weil sich Milch fast nur als Kakao an den Schulen verkaufen lässt, wird die Extraportion Zucker eben billigend in Kauf genommen“, kritisierte foodwatch-Geschäftsführer Martin Rücker. „Unsere Recherchen zeigen eine kaum vorstellbare Verflechtung zwischen Auftragsforschern, Milchwirtschaft und Politik – über Jahrzehnte und Parteigrenzen hinweg. Bei vielen Lobbyisten würden die Sektkorken knallen, wenn sie auch nur ein bisschen Werbung in den Schulen machen dürften – die Milchwirtschaft in NRW bekommt nicht nur den offiziellen Auftrag der Landesregierung, sondern auch noch Steuergelder, um Werbung für ihre Produkte direkt im Unterricht zu machen.“
Der foodwatch-Report geht der Frage nach, weshalb eine Landesregierung in ihrem Schulmilchprogramm weiterhin gezuckerten Kakao steuerlich fördert – obwohl Kinderärzte, Zahnmediziner und Ernährungsexperten das Gegenteil fordern.
Die wichtigsten Rechercheergebnisse:
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Die Landesvereinigung der Milchwirtschaft NRW hat den offiziellen Auftrag der Landesregierung, „Werbung zur Erhöhung des Verbrauchs von Milch“ zu machen – „insbesondere“ auch durch „Förderung des Schulmilchabsatzes“. Grundlage dafür ist ein Erlass des Landesumweltministeriums auf Basis eines Bundesgesetzes aus der Nachkriegszeit, als die Milchwirtschaft gefördert und Kinder gepäppelt werden sollten.
Das Land bezahlt der Milchlobby jährlich rund 350.000 Euro, um Unterrichtseinheiten und Lehrmaterialien zu gestalten, Marketingveranstaltungen in den Schulen durchzuführen und mit einem „Schulmilchteam“ das Schulmilchprogramm zu bewerben. Das im Gegenzug für die EU-Zuschüsse für Schulmilchprodukte geforderte pädagogische „Begleitprogramm“ wird praktisch vollständig von der Milchwirtschaft durchgeführt – was das Land erheblich billiger kommt als ein neutrales, interessenunabhängiges Programm zur Ernährungsbildung.
Bei gesundheitlichen Fragen zum Beispiel zum Zuckergehalt verweist das Land NRW auf interessengeleitete Informationen der Landesvereinigung der Milchwirtschaft. Bis vor wenigen Jahren war der Lobbyverband im Impressum der offiziellen Schulmilchseite des Umweltministeriums sogar ganz unverblümt als verantwortlich für die „inhaltliche Betreuung“ aufgeführt. Interne Protokolle von Treffen zwischen Ministerium und Milchlobby, die foodwatch über das Informationsfreiheitsgesetz erhalten hat, belegen, dass es auch bei der aktuellen Website eine enge Abstimmung gab. Zudem finden sich wortgleiche Passagen in Landespublikationen und auf PR-Seiten des Milchverbandes – in denen zum Beispiel erklärt wird, weshalb der Zucker in den Milchprodukten kein Problem sein soll.
Die Gewinne der Schulmilchlieferanten sind abhängig vom Kakao. Das Land hat bislang keine offiziellen Zahlen für Schulen genannt. Die Protokolle der Treffen zwischen dem Landesumweltministerium und Milchwirtschaft weisen jedoch darauf hin, dass zuletzt 80 bis 90 Prozent der an den Schulen verkauften Trinkpäckchen gezuckerte Milchprodukte waren. Lieferanten wie Landliebe drohen mit einem Stopp der Schulmilchlieferung, wenn Kakao nicht länger gefördert wird. Der Schulmilch-Kakao von Marktführer Landliebe hat einen Zuckergehalt von 8,7 Prozent und bewegt sich damit fast auf dem Niveau von Fanta. Viele Schulkinder nehmen über die 250-Milliliter-großen – mit Steuergeldern subventionierten – Kakao-Trinkpäckchen jeden Tag mehr als sieben Stück Würfelzucker zu sich.
Mit dubiosen Studien gibt die Milchwirtschaft vor, positive Effekte von gezuckertem Kakao für die „geistige Leistungsfähigkeit“ und die Zahngesundheit belegen zu können. Tatsächlich halten diese Studien – größtenteils Auftragsarbeiten für die Milchwirtschaft, die auf drei untereinander eng vernetzte Forscher zurückgehen – einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Sie arbeiten mit winzigen Probandenzahlen, stellen Ergebnisse grafisch verzerrt dar oder vergleichen beispielsweise die Konzentrationsfähigkeit von Schülern nach dem Kakaokonsum gegenüber Schülern mit gänzlich nüchternem Magen. Auf solchen Grundlagen wird schließlich zum Beispiel behauptet, Kakao könne die Intelligenz der Kinder um „7 IQ-Punkte“ steigern, für bessere PISA-Test-Ergebnisse und bessere Schulnoten sorgen. Grundlage für solche Aussagen ist ein zweifelhaftes Messverfahren des unter Fachkollegen berüchtigten Psychologen Siegfried Lehrl – der bereits ein „Pflichtkaugummi“ im Unterricht forderte, weil auch das Kaugummikauen angeblich die Intelligenz der Schülerinnen und Schüler steigern soll.
Mit den Studienergebnissen gingen insbesondere zwei industrienahe Wissenschaftler auf Werbetour für den Kakao: der Arbeitswissenschaftler Günter Eissing, emeritierter Professor der TU Dortmund (die ihm vorwirft, das Renommee der Hochschule für Privatinteressen zu nutzen und die nach foodwatch-Informationen rechtliche Schritte prüft) und der Ökotrophologe Günter Wagner vom privatwirtschaftlichen „Deutschen Institut für Sporternährung“ in Bad Nauheim. Sie vermarkten die angeblichen Wirkungen von Kakao in Artikeln im Fachblatt „Schule NRW“, auf Schulleiterkongressen und Bildungsmessen und nutzen dafür teils werbliche Formulierungen. Landliebe nutzt die „Forschungsergebnisse“ offensiv für sein Marketing und behauptet, Kakao steigere nicht nur die „Intelligenz und Konzentration“, sondern verursache zum Frühstück „weniger Karies als Wasser“. Auch in einer Elternbroschüre wirbt Landliebe für den Kakao auf Basis der Studienergebnisse. Das Land Brandenburg hat gegenüber foodwatch angegeben, auch auf Basis dieser Kakao-Studien an der Förderung der gezuckerten Milchprodukte festzuhalten.
foodwatch bezeichnete es als inakzeptabel, dass das Land NRW ausgerechnet diejenigen mit der Ernährungsbildung in Schulen und der Gesundheitsaufklärung beauftrage, die mit solch dubiosen Studien versuchen, gezuckerte Produkte gesundzuwaschen. Die Verbraucherorganisation forderte die nordrhein-westfälische Umweltministerin Ursula Heinen-Esser auf, die steuerliche Förderung von gezuckerten Schulmilchgetränken unmittelbar zu stoppen und die Zusammenarbeit mit der Landesvereinigung der Milchwirtschaft bei Schulprogrammen zu beenden.
„Lobbyisten haben an den Schulen nichts verloren. Herr Laschet und Frau Heinen-Esser haben die Chance, als erste Landesregierung den Kakao-Sumpf trockenzulegen“, so foodwatch-Geschäftsführer Martin Rücker. Er kritisierte, dass sich das Land NRW vor der Verantwortung drücke, Schulbildung interessenunabhängig zu organisieren und Schülern an staatlichen Einrichtungen eine ausgewogene Ernährung anzubieten: „Wer ernsthaft eine gute Ernährung für Kinder fördern will, der investiert kein Steuergeld für zuckrigen Kakao, sondern kommt auf ganz andere Ideen: Der setzt die offiziellen Qualitätsstandards für die Mittagsverpflegung an allen Schulen durch, der lässt alle Schulen am Obst- und Gemüseprogramm teilnehmen oder fördert, wo nötig, ausgewogene Frühstücksangebote. Dafür aber stellt das Land die nötigen Mittel nicht zur Verfügung.“ Für die Förderung von zuckrigem Kakao sei auch die Kalziumversorgung von Kindern kein guter Grund – denn die lasse sich auf vielen Wegen sicherstellen. Bereits zwei bis drei Scheiben Käse decken laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung den Tagesbedarf von Kindern.
Renommierte Ärzte, Ernährungsexperten und Wissenschaftler sowie Vertreter von Lehrern und Eltern hatten im September an die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen appelliert, die steuerfinanzierte Förderung von gezuckertem Kakao im Schulmilchprogramm zu beenden. Auch die offiziellen Richtlinien der Europäischen Union für das Schulprogramm sehen eigentlich keine Förderung mehr von gezuckerten Produkten vor. Nordrhein-Westfalen ist aber, neben Berlin und Brandenburg, das letzte Bundesland in Deutschland, das dennoch an der Förderung von gezuckerten Milchprodukten festhält und dafür eigens eine Ausnahmeregelung geschaffen hat. Im August hatte die zuständige Landesumweltministerin Ursula Heinen-Esser nach Kritik von foodwatch angekündigt, die jahrelange Praxis der Kakao-Förderung im NRW-Schulmilchprogramm zu überprüfen.
15 Prozent der Kinder und Jugendlichen gelten als übergewichtig – ein wesentlicher Grund dafür ist eine unausgewogene Ernährung. Besonders der zu hohe Konsum gezuckerter Lebensmittel wird von Ernährungswissenschaftlern, der Ärzteschaft und der Weltgesundheitsorganisation gleichermaßen bemängelt.