Wälder, Nahrungsmittel, Pandemien und das Aussterben von Arten: Forschungsnetz veröffentlicht "10 Must Knows" zur biologischen Vielfalt

28.03.2022 - Deutschland

"10 Must Knows aus der Biodiversitätsforschung", vom Klimastress für Wälder bis zum Coronavirus, das vom Tier auf den Menschen übergesprungen ist, werden jetzt erstmals veröffentlicht. Mehr als 45 Experten des deutschen Leibniz-Forschungsverbundes Biodiversität und Kollegen haben diese Bestandsaufnahme zur Erhaltung der Natur als Lebensgrundlage des Menschen zusammengestellt. Im Vorfeld der UN-Biodiversitätskonferenz im chinesischen Kunming und parallel zu den Vorbereitungstreffen, die derzeit in Genf stattfinden, soll dieser Bericht zum Dialog anregen. Zugleich formulieren die Forscher klare politische Forderungen.

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"Wenn wir so weitermachen wie bisher, untergraben wir die Grundlagen unseres Lebens auf diesem Planeten", erklärt Kirsten Thonicke vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Sprecherin des Leibniz-Forschungsverbundes Biodiversität. "Es ist wichtig, nicht auf Einzelphänomene wie eine einzelne vom Aussterben bedrohte Art zu schauen, sondern die Zusammenhänge zu betrachten. Letztlich geht es um die Luft, die wir atmen und das Wasser, das wir trinken. Wir wollen die Menschen ermutigen, sich den Herausforderungen zu stellen. Je länger wir zögern, desto schwieriger und teurer wird es - hier gibt es deutliche Parallelen zur Klimafrage".

Aktuelle Bestandsaufnahme zur biologischen Vielfalt

  1. "Klima- und Biodiversitätsschutz gemeinsam erreichen": Ökosysteme an Land und in den Meeren haben in den vergangenen zehn Jahren rund 55 Prozent der vom Menschen verursachtenCO2-Emissionen aufgenommen. Die Zerstörung von Ökosystemen wie Torfmooren oder Wäldern setzt große Mengen an Treibhausgasen frei. Intakte Ökosysteme sind daher gut für das Klima. Ein stabiles Klima wiederum kommt auch der Artenvielfalt zugute. Das Aussterberisiko tropischer Arten könnte halbiert werden, wenn die globale Erwärmung unter 2°C gehalten und ein Drittel der Landfläche geschützt würde. Beides, Klima- und Biodiversitätsschutz, ist international vereinbart oder wird gerade verhandelt, es fehlt nur noch an der Umsetzung.
  2. "Stärkung der planetarischen Gesundheit": 75 % der neuen Infektionskrankheiten - darunter auch COVID19 - sind Zoonosen, d. h. Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden. Das kann passieren, wenn der Mensch zunehmend in Naturräume eindringt, oder in der Massentierhaltung, die oft schon zur Zerstörung der Natur beiträgt, indem sie Futtermittel auf ehemals unberührten Flächen anbaut. Der Schutz von Ökosystemen und die Reduzierung der Massentierhaltung können daher direkt und indirekt der Gesundheit von Mensch und Natur zugute kommen.
  3. "Verborgene Artenvielfalt berücksichtigen": Jeder will Elefanten oder Tiger schützen, aber das Leben unter der Oberfläche stirbt unsichtbar. In Flüssen und Seen ist die Zahl der größeren Wirbeltiere um 84 % zurückgegangen. Mehr Forschung über das Sterben von Mikroorganismen im Boden ist dringend erforderlich. Die Mikroorganismen unter der Erde sind wichtig für alles, was auf der Erde wächst.
  4. "Förderung von biokulturellen Lebensräumen": Die rund 5.000 auf der Erde verbliebenen indigenen Völker sind als Jäger, Sammler und Fischer auf eine intakte Natur angewiesen. Biodiversität, kulturelle und sprachliche Vielfalt sind eng miteinander verbunden; so werden beispielsweise 70 % aller Sprachen auf nur 24 % der Erdoberfläche gesprochen, wo auch die größte Artenvielfalt zu finden ist. Wenn wir die Sprachen verlieren, verlieren wir nicht nur das Wissen über die biologische Vielfalt, sondern auch das traditionelle ökologische Wissen, das für die Erhaltung und den Schutz ihres natürlichen Lebensraums von entscheidender Bedeutung ist.
  5. "Wälder nachhaltig nutzen": Nach drei Dürrejahren (2018-2020) haben 79 Prozent aller Bäume in deutschen Wäldern weniger dichtes Laub. Viele Wälder werden durch den Klimastress anfälliger für Insektenschäden oder Brände. Gleichzeitig gelten Wälder als klimafreundliche Rohstofflieferanten, denn Bäume nehmenCO2 aus der Luft auf und speichern es im Holz. Der Begriff der Nachhaltigkeit, der seinen Ursprung in der Forstwirtschaft hat, muss hier neu definiert werden. Wälder müssen bewirtschaftet werden, zum Beispiel durch Zertifizierung, die Anpflanzung neuer widerstandsfähiger Arten oder die Förderung der natürlichen Waldentwicklung.
  6. "Landwirtschaft umgestalten": Die Produktion von Nahrungsmitteln für die Menschheit - eine enorme Leistung - trägt durch Monokulturen und zu viele Pestizide und Düngemittel oft zum Artensterben bei. Auf 40 % der weltweiten Anbaufläche wachsen nur wenige Getreidesorten, nämlich Mais, Weizen und Reis. Zugleich sind fast 40 % der Pflanzenvielfalt vom Aussterben bedroht. Damit die Landwirte die biologische Vielfalt erhalten, brauchen sie finanzielle Anreizsysteme und Beratung, zum Beispiel durch die deutsche oder die EU-Agrarpolitik.
  7. "Land und Ressourcen schützen": 77% der Landflächen der Erde, mit Ausnahme der eisbedeckten Antarktis, sind bereits stark durch menschliche Nutzung verändert. Naturräume müssen daher dringend geschützt und weitere Flächen renaturiert werden, wenn sie ihre Ökosystemleistungen weiterhin erbringen und zum Klimaschutz beitragen sollen. Diese Leistungen in Euro und Cent auszudrücken, um sie zu managen, ist nicht einfach. Es ist derzeit unklar, wie viel Ressourcenverbrauch sich die Menschheit noch leisten kann. Aber: So wenig wie möglich, wenn sie Risiken minimieren will.
  8. "Transnationale Infrastrukturen und Bildung für Nachhaltigkeit ausbauen": Schäden an der Natur entstehen oft entlang von Lieferketten und in globalen Produktionsnetzwerken. Strategien wie die der EU zum Schutz der biologischen Vielfalt müssen daher länderübergreifend sein. Aber es kommt auch auf die Bürger an. Mehr als 70 % aller Biodiversitätsdaten weltweit werden von Menschen gesammelt, die außerhalb der Wissenschaft tätig sind. Die Bürgerwissenschaft nimmt zu.
  9. "Sicherstellung des Zugangs und der offenen Nutzung von Forschungsdaten": Die gemeinsame Nutzung von Daten ist die Grundlage für ein effektives Biodiversitätsmanagement. So bietet beispielsweise eine einschlägige Datenbank der INSDC (International Association of Gene Sequence Databases) bereits mehr als eine Quintillion Gensequenzen zur freien Nutzung weltweit an - sie helfen, durch Genvergleiche neue Arten zu identifizieren oder Veränderungen in bekannten Organismen, etwa bei Krankheitserregern, zu erkennen. Ein eingeschränkter Zugang zu den Daten behindert den Forschungsfortschritt, mehr Digitalisierung fördert ihn.
  10. "Biodiversitätsfreundliche Anreize setzen": Weltweit werden jährlich rund 140 Milliarden US-Dollar aus öffentlichen und privaten Mitteln für den Erhalt der biologischen Vielfalt ausgegeben - aber 500 Milliarden an öffentlichen Subventionen und schätzungsweise 2.600 Milliarden an privaten Investitionen in Sektoren, die der biologischen Vielfalt schaden. Dieses Ungleichgewicht könnte sich ändern, wenn der Finanzsektor die Auswirkungen auf die biologische Vielfalt in die Risikobewertung von Investitionen einbeziehen würde, so wie er es bei den Klimaauswirkungen bereits zunehmend tut. Dies wäre ein wichtiger Hebel für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

An den "10 Must Knows aus der Biodiversitätsforschung" waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der folgenden Institute federführend beteiligt:

Leibniz-Forschungsverbund Biologische Vielfalt:

  • Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
  • Akademie für Territoriale Entwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft
  • Leibniz-Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft
  • Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien
  • Leibniz-Institut für Gemüsebau und Zierpflanzenbau
  • Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei
  • Leibniz-Institut für ökologische Stadt- und Regionalentwicklung
  • Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung
  • Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung
  • Museum für Naturkunde Berlin - Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
  • Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung

Weitere Einrichtungen:

  • Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
  • Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
  • Universität Zürich

Stimmen von Forschern, die an den "10 Must Knows aus der Biodiversitätsforschung" federführend mitgewirkt haben:

Aletta Bonn, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv): "Wir müssen die Biodiversitätskrise gemeinsam mit der Klima- und Gesundheitskrise angehen. Biodiversität fördert unsere Gesundheit - zum Beispiel durch Nahrung, Medikamente oder durch natürliche Klimaregulierung. Wir wissen, dass Vogelgezwitscher und Bäume vor unserer Haustür unsere Lebenszufriedenheit und psychische Gesundheit steigern, und der Schutz von Ökosystemen bedeutet aktive Pandemieprävention. Hier gibt es viele Synergien - eine gesunde Natur ist gut für uns!"


Stephanie Kramer-Schadt, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung: "Wildtier- und Umweltaspekte müssen in Prioritäten und Pläne für die Gesundheitssicherheit einbezogen werden, denn die Bedeutung der Gesundheit von Wildtieren für die menschliche Gesundheit und funktionierende Ökosysteme wurde in globalen Gesundheits- und Biodiversitätsstrategien bisher weitgehend übersehen. Die Gesundheit des Planeten hängt davon ab, dass das Netz des Lebens vielfältig ist - nicht nur, wenn es darum geht, Krankheitserreger in Schach zu halten, sondern auch im Hinblick auf die Ernährung und das Klima."

Daniel Müller, Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien: "Falsche wirtschaftliche Anreize und Marktversagen haben zur Krise der Biodiversität beigetragen. Politische Maßnahmen, die das Markt- und Investitionsverhalten auf den Erhalt und die Wiederherstellung der Biodiversität ausrichten, sind daher entscheidend für die Lösung der Biodiversitätskrise."

Sibylle Schroer, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei: "Investitionen in den Artenschutz sind oft von Empathie getrieben. Wir fühlen uns naturgemäß weniger verbunden mit Arten, die wir nicht sehen, die Krankheiten übertragen könnten oder die in uns unbekannten Lebensräumen leben. Der Mensch konzentriert sich in erster Linie auf das, was er wahrnehmen kann. So werden Veränderungen der Zusammensetzung von Lebensgemeinschaften in Böden, Sedimenten, Gewässern oder in der Nacht oft unterschätzt, wie z. B. künstliches Licht in der Nacht als Treiber des globalen Wandels. Die Betrachtung solcher übersehenen Lebensräume ist jedoch von grundlegender Bedeutung für den Schutz der Arten, die uns am Herzen liegen".

Tonjes Veenstra, Leibniz-Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft: "Der natürliche Lebensraum indigener Völker und lokaler Gemeinschaften wird aufgrund von Abholzung und Ausbeutung immer kleiner. Aber nicht nur der Verlust von Arten in diesen Hotspots der biologischen Vielfalt ist besorgniserregend, sondern auch die in diesen Gemeinschaften gesprochenen Sprachen und damit ihr komplexes Wissen über Flora und Fauna sind stark gefährdet. Der Erwerb formaler Rechtstitel für ihr Land ist der Schlüssel zum Überleben dieser Sprachgemeinschaften, damit sie die Kontrolle über ihren Lebensraum behalten und ihn schützen können. Das macht unseren Planeten letztlich zu einem vielfältigeren und gesünderen Ort für uns alle."

Barbara Warner, Akademie für Territoriale Entwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft: "Schutz und Entwicklung von Landschaften, Ökosystemleistungen und Natur sind umfassende gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Ziele und Herausforderungen zugleich - und zentrale Anliegen einer nachhaltigen Raumentwicklung."

Wolfgang Wende, Leibniz-Institut für ökologische Stadt- und Regionalentwicklung: "Es reicht bei weitem nicht mehr aus, nur Landschaften, Ökosysteme und die biologische Vielfalt zu schützen. Der Verlust der biologischen Vielfalt ist bereits so weit fortgeschritten, dass neben einem wesentlich strengeren Schutz auch eine umfassende Wiederherstellung von Ökosystemen und Lebensräumen erforderlich ist. Ein Nettogewinn an biologischer Vielfalt sollte das Ziel unserer Gesellschaft sein."

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