Tomaten statt Tulpen - neues Lebensgefühl in der Essbaren Stadt
Die Dadarich-Klause am Hauptbahnhof ist Mittelpunkt von Krellmanns Initiative «Essbares Darmstadt». Überall in der Stadt sollen Grünflächen und Brachen genutzt werden, um Obst, Gemüse oder Kräuter anzubauen. «Jeden Tag entstehen zwei oder drei neue Projekte», sagt Krellmann. Das soll nicht nur Stadtteile und Straßenzüge aufhübschen, sondern vor allem Leute zusammenbringen und die Vielfalt der Lebensmittel aufzeigen. «Es gibt so viel mehr als Schnittlauch und Petersilie», sagt Mitbegründerin Anna Arnold.
In Andernach funktioniert das bereits seit vielen Jahren. Die 30 000 Einwohner-Stadt in der Nähe von Koblenz hat für ihr Konzept «Essbares Andernach» schon mehrere Preise gewonnen. «Flächen, die früher richtige Schandflecken waren, sehen jetzt richtig toll aus», sagt Stadtsprecher Christoph Maurer. Zuerst wurden Tomaten angepflanzt, es folgten Obstbäume, Kräuter, Salat. Im Park am Rhein weiden Schafe, im Stadtgraben laufen Hühner herum. Bedenken, dass Beete beschädigt werden könnten, seien unbegründet gewesen. «Es gibt so gut wie keinen Vandalismus», sagt Maurer. Seine Erklärung: «Wenn man den Leuten etwas Schönes gibt, dann achten sie auch darauf.»
Das bestätigt Juliane Wagner vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). «Wenn Brachflächen zu Gemeinschaftsgärten werden, identifizieren sich die Leute stärker mit ihrem Quartier und fühlen sich auch dafür verantwortlich.» Im Auftrag des BBSR haben Wissenschaftler Urban-Gardening-Projekte in vielen deutschen Städten untersucht. Wagners Fazit: Gemeinschaftsgärten können Stadtteile ganz neu beleben. «Da kommen Leute zusammen, die sonst nichts miteinander zu tun haben.»
Auch könnten solche Gärten einen wichtigen Beitrag zur Integration von Flüchtlingen leisten. Vor allem solange die Asylbewerber noch nicht arbeiten dürften, könne der Garten eine sinnvolle Beschäftigung sein. «Sie kommen aus der Wohnung raus, lernen andere Leute und die Sprache kennen», erklärt Wagner.
In Darmstadt gestalten Architektur-Studenten die Umgebung eines Flüchtlingswohnheims. Dazu gehören auch Beete mit Kräutern, die von den Bewohnern zum Kochen verwendet werden können. «Die Flüchtlinge sind total begeistert, vor allem die Frauen», sagt Philipp Villwock. Gerade schrauben der Student und seine Kommilitonen Holzkästen für die Beete zusammen. Vor einem der Wohnblocks stapeln sich Thymian, Oregano und marokkanische Minze. «3500 Pflanzen hat ein Sponsor zur Verfügung gestellt», erklärt Krellmann, der das Projekt begleitet.
Auf Sponsoren - etwa Gärtnereien, die Pflanzen stellen - ist die «Essbare Stadt» angewiesen. Krellmann setzt aber auch auf Unterstützung aus dem Rathaus. Stadtsprecher Daniel Klose hält Wasser- und Materialspenden denn auch für möglich. Zudem werden Ansprechpartner in Stadtverwaltung und Stadtwirtschaft vermittelt.
Krellmann spricht von 40 Städten in ganz Deutschland, die bereits dem Konzept «Essbare Stadt» folgen. In Kassel will man sogar den Begriff «Essbare Stadt» geprägt haben. Vor sechs Jahren wurden dort Obst- und Nussbäume auf öffentlichen Grünflächen gepflanzt, dazu kommen zahlreiche Gemeinschaftsgärten. «Wir wollen jeden Stadtteil erreichen», sagt Initiator Karsten Winnemuth.
Heike Boomgarden, Initiatorin von «Essbares Andernach» und auch in Darmstadt als Beraterin dabei, verweist sogar auf finanzielle Einsparmöglichkeiten. Grasflächen müssten nicht mehr alle paar Wochen gemäht werden, häufig reiche eine Bepflanzung im Jahr. «Das spart Geld.» In Andernach funktioniert das Maurer zufolge tatsächlich.
Gefährlich werden könnte den Projekten ausgerechnet ihr eigener Erfolg. «Ein hübsch gemachtes Quartier lockt Investoren an, die dann auf diesen Flächen bauen wollen», sagt Wagner vom BBSR. Hier müssten die Städte ganz genau hinschauen. «Man kann gar nicht in Geld ausdrücken, was so ein Garten leistet.» (dpa)