Grüner Superfood
ETH Foundation / Das Bild
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Es ist leuchtend grün, schmeckt ein wenig wie Sojasprossen und hat eine angenehm körnige Konsistenz. Die Rede ist von Wolffia, einer von fünf Wasserlinsengattungen. Die bekömmlichste, wie Cyrill Hess bei einem improvisierten «Tasting» in einer Klimakammer im ersten Untergeschoss des Departements Umweltsystemwissenschaften der ETH Zürich erklärt. Hess hat die verkostete Wolffia soeben mit einem Sieb aus dem Wasser im Holzbecken vor uns abgeschöpft. Dort schwimmt der grasgrüne Teppich auf einer wässrigen Nährlösung, die über eine Pumpe kontinuierlich gereinigt wird. Temperatur, Feuchtigkeit und Lichtbedingungen werden in der Klimakammer genau kontrolliert. Hess hat die Wolffia vor zwei Wochen angesetzt. An guten Tagen schöpft er auf den rund fünf Quadratmetern Wasseroberfläche 1.5 Kilogramm «grünen Kaviar» ab – so nennt er das Produkt seines Start-ups «LemnaPro».
Schnell wachsend und hochgesund
Cyrill Hess hat Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich studiert. Während seiner Masterarbeit forschte er mit Wasserlinsen und erkannte deren Potential: «Keine Blütenpflanze vermehrt sich schneller», erklärt er. Bei guten Bedingungen in der Natur bedecke sie Teiche und kleine Seen innert wenigen Tagen. «Zudem enthält sie grosse Mengen an hochwertigen pflanzlichen Proteinen, viel Ballaststoffe, wenig Kohlenhydrate und wertvolle ungesättigte Fettsäuren.» Ein prädestinierter «Superfood» also, der in der asiatischen Küche schon lange geschätzt wird, in Europa aber noch gänzlich unbekannt ist. Für eine vorwiegend vegetarische Ernährung, wie sie von Ernährungs- und Umweltwissenschaftlerinnen in Hinblick auf die Klimakrise und zum Vorbeugen von Herz- und Kreislaufkrankheiten propagiert wird, könnte Wolffia eine wichtige Rolle spielen, hofft Hess.
Seine Begeisterung für alternative und nachhaltige Lebensmittel wurde in der Vorlesung «Alternative Crops» von Achim Walter geweckt. Der ETH-Professor für Kulturpflanzenwissenschaften will mit Forschung, neuen Technologien und alternativen Nahrungspflanzen einen Beitrag zu einem nachhaltigen Welternährungssystem leisten. Walter half Hess, damit dieser als Gastwissenschaftler Labor und Klimakammern zur Weiterentwicklung seiner Idee nutzen konnte.
Zudem machte er Hess mit seiner ehemaligen Bachelorstudentin Melanie Binggeli bekannt. Sie war während ihres Studiums im «ETH Entrepreneur Club» und anderen Start-up-Netzwerken aktiv. Binggeli hatte während einer Bachelorarbeit zu Soja und einer Masterarbeit zu Insekten erste Erfahrungen mit alternativen Proteinen gesammelt. «Bis 2050 müssen wir laut FAO 70 Prozent mehr Lebensmittel produzieren. Wir brauchen deshalb dringend neue Lösungsansätze», sagt sie und ergänzt: «Was mich an der Forschung wirklich fasziniert, ist neues Wissen in die Praxis umzusetzen, um damit einen positiven Beitrag für Menschen und Umwelt leisten zu können.»
Wichtig auf dem Weg von der ursprünglichen Idee zu ersten Produktsamples war das Student Project House der ETH Zürich. Hier entwickelten Binggeli und Hess die ersten Prototypen für ihr System. Was mit einer Plastikkiste und einer Aquarium-Wasserpumpe begann, ist zu einem ausgefeilten Holzbecken geworden, mit spezifischen Strömungseigenschaften für optimales Wolffia-Wachstum. Eine Mentorin half beim Aufbau eines Netzwerks, motivierte in schwierigen Phasen oder zeigte wie wichtig es ist, Ideen früh zu testen.
Bis Konsumenten Wolffia im Regal von Lebensmittelgeschäften finden, muss das Start-up noch einige Herausforderungen bewältigen. Der Produktionsprozess in der Klimakammer ist diffizil. Er muss soweit optimiert werden, dass sich keine anderen Organismen ausbreiten, welche die Pflanzen oder den Menschen gefährden könnten. «Die meisten Unternehmer, die sich für den Anbau von Wasserlinsen interessierten, sind an Pflanzenkrankheiten gescheitert», sagt Hess. «Je grösser die Mengen werden, desto schwieriger wird die Produktion unter hygienischen Bedingungen bei gleichzeitig möglichst tiefen Produktionskosten».
Einen Markt aufbauen
Eine weitere Herausforderung ist die Gesetzgebung: Hess und Binggeli müssen einen Antrag für die Bewilligung eines neuen Nahrungsmittels bei der Europäischen Union stellen, damit Wolffia überhaupt als Lebensmittel verkauft werden darf. Für die Bewilligung sind dutzende Analysen nötig. Hess schätzt die Kosten für das EU-Dossier auf eine halbe Million Franken. «Danach müssen wir die gesamte Wertschöpfungskette und einen Markt für unser Produkt aufbauen». Konsumentinnen und Konsumenten müssen Wolffia erst kennenlernen. Zum Beispiel eigne sie sich für Smoothies oder als Salat.
Seit September 2019 sind Hess und Binggeli über ein Pioneer Fellowship der ETH Zürich angestellt. Sie erhalten einen Lohn, Zugang zu Labor- und Büroräumlichkeiten und haben nun ein Jahr lang Zeit, ohne finanziellen Druck an ihrer Idee weiterzuarbeiten. Eine Ernte aus der Klimakammer im Keller des Departements Umweltsystemwissenschaften ging zu Testzwecken bereits an einen Investor aus der Lebensmittelbranche. Dieser scheint äusserst interessiert zu sein am «grünen Kaviar».