Essen als Lebenskunst statt XL-Portionen
Experten raten zu Genuss in Gesellschaft, Reflexion und langsamem Essen - enormer Forschungsbedarf zu Portionsgrößen
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Ist weniger am Teller, wird weniger gegessen und auch weggeworfen. Doch im Laufe der Jahre sind die Portionsgrößen von verpackten Lebensmitteln und beim Außer-Haus-Konsum kontinuierlich gestiegen. Das beeinflusst maßgeblich die Kalorienaufnahme und die hohe Prävalenz von Übergewicht und Adipositas. Dieses Phänomen beschreibt der Portionsgrößeneffekt. Er ist einer von mehreren Faktoren bei der Entstehung von Übergewicht und Adipositas, die negative Folgen für das Wirtschafts- und Gesundheitssystem bergen, wie Manuel Schätzer von SIPCAN klarstellt. Denn übergewichtige Personen nehmen öfter Gesundheitsleistungen in Anspruch, erhalten doppelt so oft Rezepte für Medikamente und ab einem BMI von 40 – schwerer Adipositas – weisen sie dreimal so viele Krankenstandstage auf als Erwerbstätige mit Normalgewicht. Die Folgen von Adipositas schlagen sich mit einem Minus von 2,5 % im österreichischen BIP nieder. Das könnte sich weiter verschlechtern, denn die weltweite Prävalenz von Adipositas hat sich seit 1975 verdreifacht und die OECD schätzt, dass in den nächsten 30 Jahren im Durchschnitt 8,4 % der nationalen Gesundheitsbudgets für die Folgen von Übergewicht auszugeben sind. Aktuell sind 51,1 % der Menschen in Österreich übergewichtig oder adipös.
Essen mehr Bedeutung geben
Christoph Klotter von der Hochschule Fulda sieht ein wesentliches Problem im Delegieren von Verantwortung, wenn etwa Werbung oder Portionsgrößen für das eigene Essverhalten verantwortlich gemacht werden. Er appelliert, nicht die Schuld bei der Gastronomie oder Industrie zu suchen, sondern zu verstehen, warum Menschen große Portionen wollen. Das liegt an der unbewusst omnipräsenten Angst zu verhungern und der evolutionären Programmierung, mehr zu essen, wenn genug verfügbar ist. In der Überflussgesellschaft jedoch sind adäquate Portionen auf Basis von Ernährungskompetenz (Food Literacy) und lustvoller Selbstregulation zu schaffen. Klotters Credo lautet daher: Essen wieder als elementaren Teil des Lebens begreifen und das Zeitmanagement anpassen, Essen gemeinsam zubereiten und verzehren sowie den Genuss wieder als Lebenskunst zelebrieren.
Auch Klaus Dürrschmid von der BOKU Wien betont, dass „langsam essen schneller glücklich macht“, denn die Entstehung des subjektiven Sattheitsgefühls braucht ca. 15 Minuten. Isst man in dieser Zeit rasch, überisst man sich eher. Bei langsamem Essen entsteht wiederum ein angenehmeres Wohlgefühl des Sattseins. Dürrschmid empfiehlt, das Besteck zwischen den Bissen auf den Teller zu legen, ohne Ablenkung zu essen, auf das Sättigungsgefühl zu achten, verstärkt Speisen zu sich zu nehmen, die unterschiedliche Textur und eine höhere sensorische Komplexität aufweisen, und mindestens 15-mal zu kauen. Zur Sattheit tragen nicht nur die Essgeschwindigkeit, sondern auch die hedonische Zufriedenheit und die erwartete Kalorienmenge bei. Speisen, die viel Volumen haben und energiedicht aussehen (aber es nicht sind), machen demnach trotzdem satt.
Was ist eine Portion?
Elisabeth Sperr, wissenschaftliche Mitarbeiterin im f.eh, umreißt die Frage, wie groß die in den Ernährungsempfehlungen genannten Portionen sein sollen, vor allem, wenn man den unterschiedlichen Energiebedarf hinsichtlich Geschlecht, Alter, Körpergewicht und Aktivitätslevel betrachtet. Während Grammangaben in der Theorie und mit Waage tauglich sind, kann stets auch die eigene Hand als Orientierung dienen: So entspricht z. B. eine Hand voll einer Portion bei großstückigem Obst, die Größe der Handfläche einer Portion Brot oder Fleisch, der Zeigefinger einer Portion Käse und eine halbe Faust einer Portion Eis.
Bildung vermeidet Food Waste
Portions- und Packungsgrößen wirken sich aber nicht nur gesundheitlich aus, sondern auch auf das Aufkommen von Food Waste, unterstreicht Gudrun Obersteiner von der BOKU Wien. Sie unterscheidet vermeidbaren Lebensmittelabfall, der durch zu lange Lagerung oder das Wegwerfen genießbarer Lebensmittel entsteht, vom unvermeidbaren wie Schalen von Melonen. Mehr als die Hälfte des vermeidbarem Lebensmittelabfalls entsteht EU-Schätzungen zufolge im Haushalt, der Rest teilt sich auf Produktion, Außer-Haus-Konsum, Primärproduktion und Handel auf. EU-weit fallen dabei pro Jahr 88 Millionen Tonnen im Wert von rund 143 Milliarden Euro an. Das entspricht 186 Millionen Tonnen an CO2-Äquivalenten. Obersteiner empfiehlt in der Gemeinschaftsverpflegung eine Anpassung der Liefereinheiten, Reduzierung der Portionsgrößen und Menülinien sowie eine entsprechende Ernährungs- und Verbraucherbildung in Schulen. Zudem verweist sie auf den Nutzen komplexer und kleinteiliger Verpackungen, die die Lebensdauer von Nahrungsmitteln verlängern und so zu mehr Nachhaltigkeit beitragen.
Bei der anschließenden Diskussion sprachen sich Johanna Brix (Österreichische Adipositas Gesellschaft), Elisabeth Buchinger (Sensorikum), Petra Burger (Coca-Cola Österreich) und Petra Lehner (AK Wien) für einen Kulturwandel aus. Statt Kinder aufzufordern, den Teller gänzlich zu leeren, sollte vermehrt das Auf-sich-Hören beim Satt-Sein vermittelt werden, denn Kinder können die richtige Portion in der Regel intuitiv selbst wählen. Kritik gab es auch an der Erwartungshaltung der Konsumentinnen und Konsumenten, weil die Gastronomie dadurch zu größeren, üppigen Speisen und Buffets tendiert, was Food Waste und Überessen befeuert. Bei verpackten Speisen neigen wir wiederum dazu, die Mitte zu wählen und nehmen statt der M-Packung die L-Packung, wenn auch eine XL-Packung angeboten wird. Zur richtigen Einordnung der Portionsgrößen auf Lebensmittelverpackungen sind im Rahmen der LMIV (VO (EU) Nr. 1169/2011) von Seiten der EU-Kommission jedoch noch Vorgaben zu erlassen. Bis dahin orientieren sich die Hersteller bei der freiwilligen Nährwertangabe pro Portion an empfohlenen oder üblichen Verzehrmengen, wie etwa 250 ml bei Getränken.