Kampf um Nutri-Score

foodwatch warnt vor Verwässerung der Ampelkennzeichnung

21.07.2020 - Deutschland

Die Verbraucherorganisation foodwatch hat vor einer Verwässerung der Lebensmittelampel Nutri-Score gewarnt. Die Lebensmittellobby arbeite mit Hochdruck daran, die Berechnungsgrundlage des Nutri-Score so zu verändern, dass unausgewogene Produkte gesünder abschneiden – selbst einige Zuckergetränke bekämen dann eine grüne Ampel. Vor allem der Lebensmittelverband Deutschland tue sich mit unwissenschaftlichen Forderungen hervor, kritisierte foodwatch. Dies belegen interne Dokumente des staatlichen Max-Rubner-Instituts (MRI), die foodwatch heute veröffentlicht hat.

„Erst wollte die Lebensmittel-Lobby den Nutri-Score verhindern, jetzt will sie ihn möglichst unschädlich machen. Eine Ampelkennzeichnung, die selbst zuckrigen Getränken ein grünes Licht gibt, verkommt zu einem Marketing-Instrument. Mit diesem Plan dürfen die Lobbyverbände nicht durchkommen!“ sagte Luise Molling von foodwatch.

foodwatch hat über einen Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz interne Dokumente des Max-Rubner-Instituts erhalten, die belegen, mit welch absurden Forderungen die Industrielobby versucht, die Berechnungsgrundlage des Nutri-Score zu verwässern – meist ohne wissenschaftliche Basis. Das Bundesernährungsministerium hatte das MRI mit der Prüfung der Lobby-Forderungen beauftragt, die Dokumente aber bisher nicht veröffentlicht.

Die 7 absurdesten Forderungen der Lebensmittelindustrie:

Forderung 1: Fruchtsäfte wie Lebensmittel berechnen
Was wäre die Folge? Selbst Traubensaft bekommt ein grünes A – obwohl er 60 Prozent mehr Zucker enthält als Coca Cola!
Der Nutri-Score berechnet Getränke mit einem gesonderten Algorithmus, bei dem ein hoher Zucker- und Kaloriengehalt negativer ins Gewicht fällt als bei festen Lebensmitteln. Ein Traubensaft wird zum Beispiel mit einem roten E bewertet, denn er enthält zwar viel Frucht und damit auch günstige Inhaltsstoffe, aber mit 160 Gramm je Liter auch extrem viel Zucker. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt generell, Saft nur in kleinen Mengen oder stark mit Wasser verdünnt zu trinken. Würde die Lobby mit ihrer Forderung durchkommen, bekämen jedoch sämtliche Säfte ein dunkelgrünes A – eine Bewertung, die bislang bei Getränken alleine Wasser vorbehalten ist. Das MRI stellt in seiner Bewertung klar: „Aus ernährungsphysiologischer Sicht ist es (…) sinnvoll, Fruchtsäfte weiterhin als Getränk zu bewerten.“

Forderung 2: Fleisch und Wurst schönrechnen
Was wäre die Folge? Salzige Wurst und fettiges Grillgut schneiden besser ab – obwohl wir ohnehin schon zu viel davon konsumieren.
Der Lebensmittelverband fordert, dass der Proteingehalt in Fleisch- und Wurstwaren positiver zu Buche schlagen sollte, was zur besseren Bewertung einiger Wurst- und Grillwaren führen würde. Und das, obwohl in Deutschland etwa doppelt so viel Fleisch gegessen wird, wie von der DGE empfohlen. Das MRI erteilt auch dieser Forderung der Lobbyverbände aus wissenschaftlicher Sicht eine klare Absage – es bestehe „kein Handlungsbedarf“.

Forderung 3: Andere Kennzeichnungsmodelle sollen parallel zum Nutri-Score verwendet werden dürfen
Was wäre die Folge? Die zentrale Funktion des Nutri-Score – der schnelle Vergleich von Produkten – wird durch die Verwendung unterschiedlicher Modelle unmöglich gemacht.
Britische Ampel, skandinavisches Keyhole oder finnisches Heart-Symbol – geht es nach der Lebensmittellobby, sollen auch andere europäische Kennzeichnungsmodelle neben dem Nutri-Score in deutschen Supermärkten verwendet werden dürfen. Die Folge wäre ein unübersichtlicher Kennzeichnungsdschungel, der eine gesündere Kaufentscheidung durch schnelles Vergleichen erschwert oder gar unmöglich macht.

Forderung 4: Milchmischgetränke besser bewerten
Was wäre die Folge? Stark zuckerhaltige Fertig-Kaffeegetränke bekommen eine deutlich bessere Bewertung.
Milchmischgetränke werden aktuell erst ab einem Milchanteil von 80 Prozent nicht mehr als Getränke, sondern wie Nahrungsmittel berechnet. Die Industrie will diesen Prozentsatz auf 70 Prozent reduzieren. Damit würden viele zuckrige Fertig-Kaffeegetränke statt einem roten einen grünen Nutri-Score bekommen – was die Entwickler des Nutri-Score ausdrücklich vermeiden wollten.

Forderung 5: NGOs, Apps und Journalisten dürfen Nutri-Score nicht berechnen
Was wäre die Folge? Der Nutri-Score der allermeisten Produkte wird zur Geheimsache, es sei denn, der Hersteller berechnet diesen freiwillig selbst.
Zensur statt Transparenz: Apps wie Open Food Facts, mit deren Hilfe Verbraucherinnen und Verbraucher den Nutri-Score von Produkten berechnen können oder auch NGOs oder Journalisten, die für einzelne Produkte beispielhaft den Nutri-Score kalkulieren – wenn es nach den Wünschen der Lobby geht, soll all dies verboten sein.

Forderung 6: Nutri-Score anhand von Portionsgrößen berechnen
Was wäre die Folge? Zuckrige, fettige oder salzige Produkte wie Süßigkeiten, Brotaufstriche oder Grillsoßen könnten eine bessere Bewertung bekommen.
Der Lebensmittelverband fordert, dass bestimmte Lebensmittelgruppen nicht einheitlich auf Basis von 100 Gramm beziehungsweise 100 Millilitern berechnet werden, sondern auf Basis kleinerer Portionsgrößen. Dabei ist aus wissenschaftlicher Sicht völlig klar: Nur eine einheitliche Berechnung ermöglicht Vergleiche zwischen Produkten und verhindert Verzerrungen. Das MRI stellt in seiner wissenschaftlichen Bewertung klar: „Die Zusammensetzung eines Produktes ist unabhängig von seiner Verzehrmenge.“

Forderung 7: Fruchtsaftkonzentrate wie Obst bewerten
Was wäre die Folge? Mit Saftkonzentraten anstatt Zucker gesüßte Produkte können eine bessere Bewertung erreichen, obwohl Saftkonzentrate genauso einzustufen sind wie Haushaltszucker.
Fruchtsaftkonzentrate zählen zu den „freien Zuckern“, die nach Ansicht der WHO und der DGE aufgrund ihrer gesundheitsschädlichen Wirkung nur in geringen Mengen aufgenommen werden sollten. Diesen Zuckerzusatz als Obstanteil und somit als der Gesundheit förderlich zu bewerten, stünde den wissenschaftlichen Empfehlungen diametral entgegen.

Die dem Nutri-Score zugrundeliegenden Algorithmen sollen im kommenden Jahr auf europäischer Ebene überprüft werden – vor diesem Hintergrund sind die Forderungen der Lebensmittelverbände entstanden. In Deutschland wird in wenigen Monaten das Nutri-Score-Modell auf freiwilliger Basis der Hersteller eingeführt und soll auf der Verpackungsvorderseite von verarbeiteten Lebensmitteln zu finden sein. Die EU-Kommission will im vierten Quartal 2022 ein verpflichtendes europäisches Nährwertlogo für Lebensmittel vorschlagen.

„Kein Kennzeichnungssystem ist perfekt und auch der Nutri-Score kann verbessert werden. Aber die absurden Forderungen der Lobbyverbände, wonach selbst Wurst und zuckrige Getränke besser dastehen sollen, sind kein hilfreicher Beitrag zu dieser Debatte. Bundesernährungsministerin Klöckner muss sicherstellen, dass der Nutri-Score-Algorithmus allein auf Basis unabhängiger wissenschaftlicher Einschätzungen und nicht aufgrund eines Wunschkonzerts der Lebensmittelindustrie weiterentwickelt wird“, sagte Luise Molling.

Für die Berechnung des Nutri-Score werden günstige Nährstoffe, die man reichlich zu sich nehmen sollte, mit ungünstigen Nährstoffen, die nur in geringen Mengen verzehrt werden sollten, verrechnet. Positiv zu Buche schlagen Ballaststoffe, Proteine, Obst und Gemüse, negativ bewertet werden etwa gesättigte Fettsäuren, Zucker und Salz. Das Ergebnis wird in eine fünfstufige Farbskala, die mit den Buchstaben A-E hinterlegt ist, übersetzt. Eher ausgewogene Produkte erhalten ein dunkelgrünes A oder hellgrünes B, im mittleren Bereich gibt es ein gelbes C und eher unausgewogene Produkte wie Süßwaren oder fettige Snacks bekommen ein orangenes D oder gar ein rotes E.

foodwatch

Die Lebensmittellobby arbeitet mit Hochdruck daran, die Berechnungsgrundlage des Nutri-Score so zu verwässern, dass unausgewogene Produkte gesünder abschneiden. Zum Beispiel bei Fruchtsaft: Aktuell berechnet der Nutri-Score den Zuckergehalt in Getränken strenger als bei festen Lebensmitteln, denn zuckrige Getränke sind eine der Hauptursachen für Fettleibigkeit. Setzt die Lobby sich mit ihrer Taktik durch, bekäme Traubensaft statt einem roten E ein grünes A – dabei enthält er 60 Prozent mehr Zucker als Coca-Cola!

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