Ernährungsreformer vor 1933
Der Begriff Vollwertkost wurde zwar erst von dem nationalsozialistischen Wissenschaftler Werner Kollath 1942 eingeführt, das Prinzip wurde jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt unter dem Einfluss der Naturheilkunde und der Lebensreform-Bewegung. Die Überzeugung der meisten Lebensreformer um 1900 war, dass sich ein Großteil der Menschen im Zeitalter der Industrialisierung völlig falsch und damit ungesund ernährte: zu viel Fleisch, zu viel Fett, zu viel Zucker, zu viel Weißmehl, zu viele Gewürze, zu viele Genussmittel. Die meisten Ernährungsreformer waren Anhänger des Vegetarismus, der um 1850 zunehmend Anhänger gewann. Allgemein wurden von ihnen weitgehend unbehandelte Lebensmittel bevorzugt. Die Ernährungsreformer, die fast alle aus dem deutschsprachigen Raum kamen, wandten sich zwar prinzipiell an alle Schichten der Bevölkerung, fanden aber fast ausschließlich beim Bürgertum Interesse, vor allem beim Bildungsbürgertum.
Der amerikanische Prediger und Vegetarier Sylvester Graham entwickelte 1829 als Alternative zum damals populären Weißbrot ein Brot aus dem feinen Vollkorn-Schrot des Weizens. Ab 1861 machte der Naturheilkundler und Vegetarier Theodor Hahn dieses sogenannte Grahambrot in der Schweiz populär. Hahn sah im Verzehr von weißem, kleiefreien Brot eine Ursache für diverse Krankheiten einschließlich Hysterie und „Gemütskrankheiten“. Auch der Laienheiler Louis Kuhne propagierte eine möglichst „naturbelassene“ Kostform, also vor allem Rohkost. Am wertvollsten sei Getreide in Form ganzer Körner, gefolgt von Schrot und Schrotbrot. Die „naturgemäße Ernährung“ sei die wesentliche Voraussetzung für Gesundheit.
Auch Sebastian Kneipp stellte als Teil seiner Kneipp-Medizin Richtlinien für gesunde Ernährung auf. Er war kein Vegetarier, betonte jedoch auch den Wert möglichst einfacher Kost und wenig verarbeiteter Nahrungsmittel. Er schrieb unter anderem:
„Für Alle, welche gesund bleiben und kräftig und stark werden wollen, ist vor Allem vom Schöpfer das Getreide bestimmt“
und
„Lasst das Natürliche so natürlich wie möglich. Die Zubereitung der Speisen soll einfach und ungekünstelt sein. Je näher sie dem Zustande kommen, in welchem sie von der Natur geboten werden, desto gesünder sind sie.“
Kneipp empfahl die Verwendung von kleiehaltigem Vollkornmehl und bezeichnete fein gemahlenes Mehl als „Kunstmehl“, dem die wichtigsten Nährstoffe fehlten.
Als ein Pionier der Vollwertkost gilt der Schweizer Arzt Maximilian Bircher-Benner (1867–1939), der unter anderem das Müsli erfand. Er entwickelte darüber hinaus eine eigene Ernährungslehre, in der pflanzliche Kost im Mittelpunkt stand. Allen roh genießbaren Pflanzenteilen, vor allem den Blättern, schrieb er einen besonders hohen Nährwert zu. Bircher-Benner sprach von Sonnenlichtnahrung, denn er ging davon aus, dass die Pflanzen aus dem Sonnenlicht besondere Energie bezögen. Die Vitamine waren um 1900 noch nicht entdeckt. Gekochte Pflanzenkost betrachtete er als weniger wertvoll. Fleisch stand bei Bircher-Benner auf der unteren Stufe der Werteskala. Außerdem lehnte er Konserven und stark bearbeitete Lebensmittel ab. Er sprach von einer „Ordnung der Ernährung“. Das Bircher-Müsli entstand als Versuch, eine optimale Kost zuzubereiten, die alle wichtigen Nährstoffe in ausreichendem Maße enthält. Der Begriff „vollwertige Nahrung“ wird bereits von Bircher-Benner in seinen Schriften verwendet.
Nationalsozialismus
In der Phase des Nationalsozialismus in Deutschland wurde auch die Ernährung der Bevölkerung staatlich beeinflusst und gelenkt. Ziel der Ernährungspolitik war es, die Gesundheit des „Volkskörpers“ zu gewährleisten. Im Mittelpunkt des Interesses stand die sogenannte „Vollkornbrotfrage“. Um die Bäckereien dazu zu bringen, vor allem Vollkornbrot herzustellen statt Brot aus Auszugsmehl, wurde 1939 der Reichsvollkornbrotausschuss gegründet. Der Reichsärzteführer Leonardo Conti erklärte:
„Der Kampf um das Vollkornbrot ist ein Kampf für die Volksgesundheit.“
Ein Gütesiegel für Brot wurde eingeführt.
Werner Kollath (1892–1970) hatte Kontakt zu Bircher-Benner und publizierte in dessen Zeitschrift Der Wendepunkt. 1942 veröffentlichte Kollath sein Hauptwerk Die Ordnung unserer Nahrung. Darin verwendete er den Begriff Vollwertkost für eine Kost, die „alles enthält, was der Organismus zu seiner Erhaltung und zur Erhaltung der Art benötigt“. Was das Ernährungskonzept selbst anbelangt, konnte er vor allem auf die Veröffentlichungen Bircher-Benners zurückgreifen. Kollaths Postulat „Lasst unsere Nahrung so natürlich wie möglich“ ist die Abwandlung eines Kneipp-Zitats. Kollath teilte alle Lebensmittel in sechs Wertgruppen (später als „Wertstufen“ rezipiert) ein; je geringer der Grad der Verarbeitung, desto höher die Wertigkeit. Pflanzliche Nahrung wird von ihm grundsätzlich höher bewertet als tierische, Rohkost höher als gekochte. Kollath unterschied begrifflich auch zwischen nicht oder wenig verarbeiteten „Lebensmitteln“, die noch lebendig seien, und stärker verarbeiteten „Nahrungsmitteln“, die für ihn „tote Nahrung“ darstellten. Der Leiter des nationalsozialistischen „Reichspropagandaamt Mecklenburg“ stufte Kollaths Werk als kriegswichtig ein: Er unterstützte noch während des Krieges den Druck der zweiten Auflage, weil es sich seiner Überzeugung nach um ein „wertvolles, gerade auch durch den Krieg im Vordergrund stehendes Werk handelt“.
Entwicklung nach 1945
Nach 1945 und bis in die 1960er Jahre hinein gab es in Deutschland wenig Interesse an speziellen Ernährungsphilosophien, denn zunächst ging es darum, die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Dann überwog der Wunsch, die Mangeljahre der Kriegszeit auszugleichen, und es folgte in den 1950er Jahren die so genannte „Fresswelle“. In England waren Lebensmittel noch bis 1954 rationiert. Erst in den 1970er Jahren wurde gesunde Ernährung wieder zu einem öffentlich diskutierten Thema.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), 1953 gegründet, führte den Begriff vollwertige Ernährung ein und definiert diese im Wesentlichen als Ernährung, die alle notwendigen Nährstoffe in ausreichender Menge, im richtigen Verhältnis und in der optimalen Form enthält. Fleischkonsum wird nur in Maßen empfohlen. 1954 gründete Hans Adalbert Schweigart die Internationale Gesellschaft für Nahrungs- und Vitalstoff-Forschung (IVG), zu deren Schwerpunkten auch die wissenschaftliche Forschung zur vollwertigen Ernährung gehörte. Sie spricht im Unterschied zur DGE von Vollwert-Ernährung und erklärt 1955, dazu gehöre auch „eine natürliche Bodenfruchtbarkeit, eine biologisch-hygienische Düngung mit harmonischer Mineraldüngung und Spurenelementversorgung, mit einer Tierhaltung in gesunden Ställen zur Erzeugung gesunder, antibiotikafreier Milch“.
In den 1960er Jahren entwickelte Max Otto Bruker (1909–2001) in Anlehnung an Kollath eine Ernährungslehre, die er ab 1966 vitalstoffreiche Vollwertkost nannte. Diese Bezeichnung ist eine Kombination aus dem von Schweigart eingeführten Sammelbegriff „Vitalstoffe“ und Kollaths Terminus „Vollwertkost“. Eine weitere Variante ist die Schnitzer-Kost nach Johann Georg Schnitzer.
Ende der 1970er Jahre entwickelten Ernährungswissenschaftler um Claus Leitzmann an der Universität Gießen auf der Grundlage von Kollaths Konzept und in Anlehnung an die IVG eine Ernährungslehre, die sie Vollwert-Ernährung nannten. Karl von Koerber kannte die Vollwertkost Brukers durch seine Eltern und gründete 1976 an der Uni Gießen als Student der Ökotrophologie einen „Arbeitskreis alternative Ernährung“; er vermittelte auch den Kontakt Leitzmanns zu Bruker. Noch als Studenten gründeten Koerber und Thomas Männle gemeinsam mit Bruker die Gesellschaft für Gesundheitsberatung, traten 1980 aber wieder aus. Ein Jahr später gründete Thomas Männle zusammen mit Elmar Schropp in Gießen den Verband für Unabhängige Gesundheitsberatung, der sich bis heute für die Verbreitung der Vollwert-Ernährung und eine neutrale, wissenschaftliche begründete Ernährungsaufklärung einsetzt.
Leitzmann, Koerber und Männle modernisierten Kollaths Lehre und berücksichtigten ökologische und sozioökonomische Aspekte bei ihren Ernährungsempfehlungen. Pflanzenkost wird wie bei Kollath und Bircher-Benner eine größere Bedeutung beigemessen als tierischen Lebensmitteln. 1981 veröffentlichten sie ein Buch zur Vollwert-Ernährung, das zuletzt 2004 in überarbeiteter Neuauflage erschienen ist.